Reform der primärmedizinischen Versorgung

Reform der primärmedizinischen Versorgung

Vorbemerkung:

Deutschland besitzt mit der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), in der rund 87 Prozent der Bevölkerung überwiegend pflichtversichert sind, ein gutes und zukunftsorientiertes Gesundheitssystem.

Mehrere Charakteristika sind jedoch kennzeichnend für unser Gesundheitswesen: Wer ein Bruttoentgelt oberhalb der Versicherungspflichtgrenze (54.900 €/2015) erhält oder Beamter ist mit  Anspruch auf Beihilfe, versichert sich in der Regel in einer privaten Krankenversicherung (PKV). Dieser Teil der  Bevölkerung beteiligt sich nicht an der solidarischen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Die seit vielen Jahren deshalb von Parteien u.a. der SPD, den Gewerkschaften, von Sozialverbänden und einzelnen Wissenschaftlern eingeforderte soziale Bürgerkrankenversicherung ist deshalb längst überfällig. Der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD sieht dies leider nicht vor. Mit dem zum 1.1.2015 in Kraft tretenden „Gesetz zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-FQWG)“ werden stattdessen durch die gesetzliche Bestimmung der GKV-Beitrags in Höhe von 14,6 v.H. und der Festsetzung des Arbeitgeberanteils bei  7,3 v.H. dieser  faktisch festgeschrieben.  Das bedeutet, dass die Versicherten steigende Mehrausgaben über den kassenindividuellem Zusatzbeitrag allein finanzieren.  Dieser wird dann nicht mehr einkommensunabhängig, sondern prozentual von den beitragspflichtigen Einnahmen des Mitglieds erhoben. Der paritätisch, bedarfsnotwendige finanzierte Beitragssatz ist „ beerdigt“. Der Selbstverwaltung (Verwaltungsrat und Vorstand) der jeweiligen Krankenkasse bleibt es überlassen den bedarfsnotwendigen Versichertenzusatzbeitrag zu beschließen. Da dieser als angeblich entscheidender Wettbewerbsparameter zur wirtschaftlichen Verwendung der Beitragsgelder gilt, wird ein politisch-medialer Druck auf die Krankenkassen ausgeübt Satzungsleistungen, aber auch bedarfsnotwendige Behandlungen und/oder Krankengeld verschärft zu überprüfen.

Ein weiteres Charakteristikum kennzeichnend unsere Gesundheitsversorgung und darauf weist der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen“ ebenfalls zum wiederholten Mal und auch in seinem jüngsten 2014er Gutachten hin: die sektorale Trennung von ambulanter und stationärer Versorgung.  Diese Abgrenzung mit unnötigen Schnittstellenproblemen und ausgeprägten Allokationsproblemen, ist hinderlich für eine zeitgemäße integrierte Versorgung.

Ein drittes und damit weiteres negatives Charakteristikum ist die gravierende Fehlverteilung der Versorgungskapazitäten, worauf das Sachverständigengutachten ebenfalls zum wiederholten Mal  hinweist: Überversorgung in vielen städtischen Bereichen bei gleichzeitig steigender Unterversorgung in ländlichen Regionen und in sozial en großstädtischen Brennpunkten sowie zwischen ambulanter allgemeinmedizinischer (hausärztlicher) Primärversorgung einerseits und spezialisierter fachärztlicher Versorgung andererseits.

Forderungen:

Zur Beseitigung dieser Fehlentwicklungen fordert deshalb die ASG Baden-Württemberg dringendst notwendige Strukturreformen, die nicht mit dem vorliegenden Referentenentwurf eines Versorgungsstärkungsgesetzes angegangen werden:

  • die primärärztlichen Planungsbereiche die mit dem „Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-VStG)“ (Haus-, Kinder- Frauenärzte) neu geregelt wurden, werden überprüft und bedarfsgerechter, d.h.

  • in überversorgten Regionen sind ab einem festgestellten Versorgungsgrad von 130%freiwerdende Arztsitze und Psychotherapeutensitze obligatorisch von der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung (KV) stillzulegen und aufzukaufen. Damit wird den Kassenärztlichen Vereinigungen ein wirksames Instrument an die Hand gegeben, ihren vom Gesetzgeber nach § 72 SGB V übertragenen verpflichtenden Sicherstellungsauftrag zur Herstellung gleichwertigen Versorgungsverhältnisse zu erfüllen; außerdem wird die KV verpflichtet bei einer durch die Gemeinsame Selbstverwaltung (Zulassungsausschüsse Ärzte/KK) festgestellten „Nichtversorgung“ der Bevölkerung, niederlassungs-willige Ärztinnen/Ärzte finanziell zu unterstützen oder ein MVZ zu gründen, in dem die niederlassungswilligen Ärztinnen/Ärzte angestellt werden).

  • des Weiteren sind zur Steuerung in überversorgten Gebieten Abschläge auf den Orientierungswert (abgestaffeltes Honorar) einzuführen.

  • zur curricularen Stärkung der Allgemeinmedizin gegenüber den spezialisierten Fachärzten, sind zielgerichtete Maßnahmen im praktischen Jahr zu entwickeln: beispielsweise finanzielle Anreize für diejenigen Universitäten, deren medizinischen Fakultäten gezielt die „Landarztpraxis“ fördern;

  • für einen noch gesetzlich festzulegenden Anteil der Medizinstudienplätze (bspw. 20 %) ist der Numerus Clausus aufzuheben. Diese Studienplätze sind für solche Studienbewerber bereitzustellen, die eine examinierte Pflegeausbildung und Hochschulreife nachweisen können und die sich verpflichten, sich in unterversorgten Regionen als Hausärzte niederzulassen oder in MVZ`s als Angestellte Ärztinnen/Ärzte zu arbeiten.

  • zur Steigerung der Attraktivität der primärärztlichen Versorgung (Allgemein-, Kinder- und Frauenärzte), sind bundesweit universitär betreute Kompetenzzentren nach dem Vorbild von Baden-Württemberg und Hessen durch die Landesärztekammern (LAK) zu installieren;

  • an allen Universitäten mit medizinischen Fakultäten sind Lehrstühle fürAllgemeinmedizin zu errichten; (Anmerkung: Prof. Dr.med. Gerlach, DEGAM-Vorsitzender, wird im Deutschen Ärzteblatt vom 10.10.2014, S. 1726, zitiert, wonach 25 von 36medizinische Fakultäten über Lehrstühle der Allgemeinmedizin verfügen)

  • zur bedarfsgerechten, primärmedizinischen Versorgung ist das Delegationsprinzip an entsprechend qualifizierte Pflegekräfte auszubauen. Ferner ist zu prüfen, wo Substitutionsverfahren sinnvoll sein können und ggf. eingeführt werden sollten.

  • zur besseren vernetzten Versorgung, insbesondere in ländlichen und unterversorgten Bereichen, sind bedarfsgerechte medizinische Versorgungszentren (MVZ) zu etablieren, damit ein qualitativ hohes Versorgungsniveau gesichert wird. Damit werden jungen Ärztinnen und Ärzten und aber auch anderen diversen Gesundheitsprofessionen attraktive Arbeitsplätze mit bedarfsgerechter Dienstanstellung und -gestaltung zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie angeboten werden;

  • MVZ`s können auch eine Versorgungsalternative sein, bei anstehenden und notwendigen Krankenhausschließungen;

  • das ärztliche Vergütungssystem(Gebührenordnung) ist patientenorientierter zu reformieren, in dem das Missverhältnis der Honorierung einzelner, vorwiegendapparategestützter Facharztgruppen („Apparatemedizin“) zu Gunsten der hausärztlichen Versorgung„sprechenden Medizin“ ohne zusätzliche Belastung der Beitragszahler umgebaut wird;

  • zur Finanzierung dieser notwendigen Strukturreformen ist durch den Bund und die Länder ein Sonderfonds aufzulegen, zur gezielten Förderung der Primärmedizin insbesondere durch von Unterversorgung bedrohte Kommunen und Stadtteilen in Großstädten.

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